Fünftes Kapitel aus dem Roman “Milchferkelhalterabend” (begonnen 2003, abgebrochen im selben Jahr; das vierte Kapitel ist zensiert):
Diesmal setzte Robert sich nicht zu den Dreien am Stammtisch. Robert blieb an der Theke stehen, trank ein Bier, nachdem er einmal rüber gewunken hatte zu Cad, Eiermann und Henriette. Die hatten sich heute wenig zu sagen, boten nur den Anblick eines trüben Haufens, mehr nicht; ganz anders als sonst manchmal, wenn die sich diskutierend in die Wolle kriegten. Als Robert sein Bier ausgetrunken hatte, sah er, wie Eiermanns Kopf in Richtung Tischplatte sank und die andern beiden Anstalten machten, ihn, wie üblich, mit allerlei Zeugs zu dekorieren. Das war auch nicht anders als sonst, also zahlte Robert und ging.
Es war noch ein wenig zu früh; mit Marie war er erst um halb Elf im Bateau ivre verabredet. So schlenderte Robert ziellos durch die Gassen, besah Schaufenster, schaute sich die Plakate der neuesten Hollywood–Streifen im Schaufenster des Multiplex–Kinos an und steuerte schließlich, obgleich immer noch zu früh, zum Bateau ivre.
Dort war noch nicht so viel los, es war ja erst halb zehn und das übliche Publikum war wohl noch im Kino, saß im Stadtgarten auf der alten Stadtmauer oder war irgendwo zu Tisch. „Zu Tisch“ trifft es bei denen besser als „beim Abendessen“, denn der Großteil des Bateau ivre–Publikums gehörte zu jenen smart sich gebenden Mittdreißigern, die mit schnellen Autos und feinen Hosen und entsprechend teuren Sonnenbrillen auffielen – und mit diesem dezenten Protz ihre bei fast allen lange, wenngleich in rascher Folge eingetretene Kette von geschäftlichen Desastern wettzumachen suchten. Viele Computer-Leute (daß sie nicht selbst die Programmierer waren, sondern eher die Chefs solcher Firmen, sogenannter Start-ups, sah man schon an der soeben beschriebenen Kleidung – da trug keiner verblichene Sweatshirts oder T–Hemden mit obskuren Schokoriegelmarken vorne drauf, wie das die zumeist dickbebrillten Programmierer taten), die sich anderthalb Jahre lang caipiriñaschlürfenderweise über new economy und den Börsengang, den kurz bevorstehenden, ihrer Firma unterhalten hatten, bis irgendwann niemand mehr so recht davon sprechen wollte. Die meisten hatten ihre ersten Pleiten und Börsenverluste in sechsstelligen Höhen hinter sich und das einzige, das bei ihnen noch glänzte, war der Schweiß auf der Stirn angesichts des gewaltigen Schuldenbergs, für den sie, so sah das Geschäftsmodell es meistens vor, ungeahntes Risiko vordem, persönlich haftbar waren. Da es inzwischen dem Gesetzgeber in seinem weisen Ratschluß gefallen hatte, private Insolvenzen zuzulassen, war es den gescheiterten Jungunternehmern doch nicht mehr so bange, denn dadurch war nun, wie sie es nannten, der Lichtstreif am Horizont zu sehen – und der rückte immer näher. Die meisten der Bateau ivre–Gäste, das hatten die wohl einmal so unter sich ausgemacht, hatten den Zeitpunkt für die Eröffnung des privaten Insolvenzverfahrens auf in drei Monaten festgesetzt. Und bis dahin gab’s doch noch reichlich Tage und Feste zu feiern. Das machten sie bevorzugt hier, was dem Wirt natürlich recht war.
Jetzt waren die aber noch alle irgendwo „auf der Piste“ und Robert hatte beinah freie Platzwahl. Er setzte sich an einen Dreiertisch im hinteren Café–Bereich, den er bevorzugte, weil zum einen dann nicht permanent jemand am Tisch vorbeiging, wie in der Café–Mitte, wo sich die Treppe zu den Toiletten befindet, und weil zum andern er den Laden überblickte, sah, wer kam und ging. Robert zog ein Buch aus der Jackentasche und las. Zwischendurch nippte er an seinem Bier. Als er sich festgelesen hatte, ganz eingetaucht war in die Lektüre, füllte sich das Bateau ivre, immer öfter mußte Robert abschlägigen Bescheid geben auf die Frage, ob bei ihm noch ’was frei sei. Endlich, wie immer eine Viertelstunde zu spät, kam Marie: „Tschuldigung, kein Parkplatz. Hallo Robert!“ Sie gab ihm einen raschen Kuß auf die Wange und setzte sich. Dem herbeigeeilten Kellner nannte sie ihren Getränkewunsch, der ziemlich rasch, trotz inzwischen schon überfüllt zu nennender Lokalität, erfüllt wurde. Sie stießen an und Marie erzählte von „ihrer Woche“, wie die so gewesen war. Spektakulär war die nicht gewesen, aber recht kurzweilig, wie Robert fand.
Zuerst hatte Marie einen Sekt bestellen wollen, sich dann aber umentschieden und auch ein Bier bestellt. Das war Robert recht. Denn von Sekt wurde Marie „giggelig“, wie Robert das nannte (Giggele nannte man auf dem Land die kleinen Hühner, Sie wissen schon, was Robert mit „giggelig“ meinte). Ein Bier, das passte, obgleich es wie ein Kontrast wirkte, irgendwie besser zu Marie. Sie trug an diesem Abend ein schlank geschnittenes, schwarzes Kleid, in dem posierend einmal Gillian Anderson in der Emanuele Ungaro–Werbung reichlich neckisch ausgesehen hatte. Neckisch sah auch Marie in diesem Kleid aus. Zum Anbeißen, dachte Robert, und … diese Ohren … ja, das hatte ’was. Nun nippte sie also an ihrem BECK’S–Bier, das eiskalt war und, das war seit einiger Zeit so üblich geworden, direkt aus der Flasche getrunken wurde. Dieses Ensemble, die eine Spur zu sehr nach Abendgesellschaft gekleidete Marie und die grüne Flasche in ihrer Hand…
Und sie plauderte von der hinter ihr liegenden Woche. Immer noch eine Spur zu sehr hektisch, so, als hetze sie immer noch nach einem Parkplatz.
Marie trug auch keine Ohrringe, wie Robert jetzt erst bemerkte. Das gefiel ihm. Sie hatte mittelgroße Ohrläppchen, die sehr zart aussahen. Als Robert nach einer Weile zum Klo ging, verweilte er kurz hinter Marie stehend, fuhr mit seinen Fingerspitzen über die Härchen im Nacken, kraulte ihren Haaransatz, was sie mit einem katzenschnurrenähnlichen „Mmmh“ quittierte, wobei sie den Kopf ein wenig nach vorne streckte. Robert ließ sich noch dazu verleiten und streichelte ganz kurz aber zärtlich ihr Ohrläppchen, ließ es zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand gleiten. Auch das schien ihr zu gefallen. Auf dem Rückweg von der „Kachelkammer“, wie Robert im Scherz die Toiletten nannte, passte er einen der afghanischen Rosenverkäufer („wolle Rose kaufe?“) ab, drückte ihm ein Geldstück in die Hand und ließ sich eine Rose geben. Daß das mitten im Café geschah, war Robert recht; denn nichts erschien ihm peinlicher zu sein als am Tisch in Anwesenheit der zu Beschenkenden eine solche Blume zu kaufen oder gar, größtes Übel, das er sich für so eine Situation vorstellen konnte, in ihrem Beisein über den Preis zu feilschen. Das soll ja eine Geste sein, mehr nicht. Und es geht nicht um den Erwerb, der, im Beisein der Rosenempfängerin, gar dem Unterfangen abträglich wäre, sondern nur um die Tatsache der Rosenüberreichung. Das Geschäft sollte diskret sein.
Marie nahm die Rose mit einem Lächeln und einem Augenverdrehen an, beugte sich zu Robert und gab ihm einen Kuß auf die Wange, diesmal nicht so flüchtig wie bei der Begrüßung. Der Kellner, einer von der aufmerksamen Sorte, kam auch schon mit einer Vase herangeeilt, in der sich die Rose gut machte auf ihrem Tisch.
Später, beide waren nicht mehr nüchtern zu nennen, aber beide noch im geselligen Stadium des leichten Trunkes, jenem Stadium, das noch wohlkontrollierte Handlung zuläßt und lallfreies Reden, dehnten sie den Gang zum Taxistand zu einem kleinen Spaziergang aus. Durch die Gassen der Altstadt, die sich an die Innenstadt direkt anschließt, und einmal quer durch den Stadtpark, was aber weniger romantisch als gedacht war, zumal das nächtliche Stadtparkpublikum sich aus Obdachlosen zusammensetzte. Noch einen Kuß, diesmal auf den Mund, der aber geschlossen blieb dabei, und sie nahmen jeder ein Taxi. Die Rose hatten sie im Bateau ivre auf dem Tisch stehengelassen, aber das war jetzt nicht mehr so wichtig.
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